Die Geschichte der deutschen Kolonialherrschaft

von Ulrich van der Heyden

Die Vorgeschichte der deutschen Kolonialherrschaft

Das 1871 gegründete Deutsche Reich galt als Nachzügler im Wettstreit um den Erwerb von überseeischen Kolonialgebieten. Zwar hatten verschiedene deutsche Territorialherrscher seit der Frühen Neuzeit begonnen, einen Zugang zu eigenen Handelskolonien in der von Westeuropa ausgehenden Kolonialexpansion zu erringen. Lediglich das Kolonialabenteuer des brandenburgisch-preußischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm Ende des 17. Jahrhunderts war von etwas längerer Dauer.

Das 1871 gegründete Deutsche Reich war nicht die einzige europäische Macht, die seit Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Übersee nach Kolonialbesitz strebten, um – so die weit verbreiteten Rechtfertigungen – in jenen Gebieten für durch den industriellen Aufschwung in Überfluss produzierte Produkte einen Absatzmarkt zu schaffen und einem angeblichen Überfluss an der eigenen Bevölkerung Möglichkeiten zu schaffen, anderenorts sich neue Existenzen aufzubauen sowie „exotische“ Rohstoffe für die einheimische Wirtschaft zu requirieren. Dass für Deutschland ebenso geostrategische Interessen eine Rolle spielten, wurde mit der Doktrin, den in Asien, Afrika und der Südsee (denn nur in diesen Territorien hatte Deutschland Kolonialbesitz, andere europäische Kolonialmächte dachten und handelten jedoch genauso) lebenden indigenen Bevölkerungen, die angeblich alle heidnisch lebten, die Zivilisation zu bringen.

Unter einem christlichen Deckmantel, den Menschen in den nichteuropäischen Gebieten das Christentum und die Zivilisation bringen zu wollen, wurden Unterjochungskriege geführt, die die in jenen Gebieten lebende indigene Bevölkerung unterwarfen, die anschließende Ausbeutung vorbereiteten, häufig deren Kulturen und Religionen zerstörten oder zumindest beeinflussten. Andererseits gelang es den Kolonisierten bzw. deren Gesellschaften den Anschluss an die Moderne zu finden. Ein Großteil der einheimischen Bevölkerung und deren traditionellen Führer passten sich den neuen politischen und ökonomischen Verhältnissen der Kolonialherrschaft an.

Die aktive Vorgeschichte des deutschen Kolonialismus begann mit dem Einsetzen der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts. Vor allem aufgrund der Aufhebung der von dem französischen Kaiser Napoleon verhängten Kontinentalsperre im Jahre 1813 begannen zumeist Hamburger und Bremer Kaufleute und Reeder, direkte Verbindungen zu bestimmten Gegenden in Lateinamerika und dem Nahen Osten, später auch nach Südost- und Ostasien sowie Westafrika, Australien und zu den Inseln der Südsee herzustellen. Unterstützt wurde dieses allmähliche Vordringen der Handelsunternehmen auf den außereuropäischen Märkten durch die schrittweise Einführung des Freihandels im Macht- und Einflussbereich Großbritanniens. Die partielle Öffnung britischer Kolonien für die Schiffe fremder Staaten durch die sogenannten Navigationsgesetze von 1822/24, jedoch auch die Aufhebung des Handelsmonopols der britischen Ostindienkompagnie für China im Jahre 1833 und die Aufhebung weiterer Beschränkungen für Schifffahrt und Handel mit den Kolonien ermöglichten es deutschen Handelsleuten, in jene Regionen der Welt vorzustoßen, die ihnen bislang verwehrt waren.

Der Beginn der direkten Kolonialherrschaft

Dennoch blieb Deutschland im „Scramble for Africa“ hinter den anderen europäischen Kolonialmächten zurück. Und so musste zur Durchsetzung einer der spektakulärsten Ereignisse der europäischen Kolonialgeschichte, wie der Kolonial- und Missionshistoriker Horst Gründer die Aufteilung Afrikas zum Ende des 19. Jahrhunderts nannte, eine internationale Konferenz durchgeführt werden, um diesen Vorgang von welthistorischer Bedeutung für die Kolonialmächte in ihre annehmbaren Bahnen zu lenken.

An dieser von Frankreich und Deutschland initiierten internationalen diplomatischen Konferenz, weithin als „Kongo-Konferenz“ bezeichnet, nahmen vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 in der deutschen Hauptstadt Vertreter von 13 europäischen Mächten (Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande mit Luxemburg, Österreich-Ungarn, Portugal, Russland, Schweden-Norwegen und Spanien), dem Osmanischen Reich und den USA teil.

Ursprünglich sollten nur die Grenzen des Kongo-Freistaates in Zentralafrika von den europäischen Konkurrenten um die koloniale Aufteilung Afrikas bestätigt werden. Zugleich wurde dem belgischen König Leopold II. die persönliche Souveränität über den Kongo-Freistaat zugesprochen, was ihm einen ungeheuren Reichtum einbrachte. Über diese Regelungen hinaus, die der Tagung den weit verbreiteten Namen gaben, wurden die Regularia festgelegt, wie die im Zuge der industriellen Entwicklungen in Europa und Nordamerika durch die Erschließung von neuen Rohstoffquellen und der Schaffung von Märkten auf dem afrikanischen Kontinent entstandenen bzw. sich abzuzeichnen beginnenden Konflikte zu verhindern oder zu lösen sind.

Es wurde unter anderem für die Signatarstaaten in Berlin für Westafrika vereinbart, die Freiheit der Schifffahrt auf den Flüssen Kongo und Niger festzuschreiben, sowie das Verbot des Sklavenhandels deklariert und ein gegenseitiger Verzicht unterschrieben, im Falle eines Krieges in Europa „farbige Truppen“ einzusetzen.

„Effective occupation“ galt als Kriterium für die Anerkennung kolonialer Besetzung. Der „Scramble for Africa“ konnte nunmehr intensiviert und völkerrechtlich reguliert absolviert werden. Damit wurden die Modalitäten künftiger kolonialer Besitzergreifungen geregelt.

Diese und andere Fragen wurden in Berlin zäh verhandelt und in einer Generalakte in 38 Artikeln völkerrechtlich festgehalten, ohne die betroffenen Afrikaner hinzuzuziehen oder auch nur zu fragen. Selbst die Souveränitätsrechte afrikanischer Staatswesen wurden einfach übergangen. Allerdings wurden nicht, wie oft irrtümlich angenommen wird, auf der Konferenz die Grenzen zwischen den einzelnen Kolonien in Afrika, die in der Mehrheit noch heute zwischen den jetzigen selbstständigen Nationalstaaten Bestand haben, festgelegt. Die häufig schnurgeraden Grenzziehungen, die oftmals die Lebensräume ethnischer Gemeinschaften rigoros trennten, ließen dies vermuten, aber es wurden hier nur die Regularien für die Kolonialmächte festgelegt, wie sie, ohne sich dabei in die Haare zu kriegen, das Territorium Afrikas südlich der Sahara unter sich aufteilen könnten.

Otto von Bismarck, der „eiserne Kanzler“, benutzte die unter seinem Vorsitz tagende „Kongo-Konferenz“ im ehemaligen Palais Radziwill in der Wilhelmstraße 77 (Reichskanzlerpalais), auf der die deutsche Delegation gemeinsam mit Frankreich den von Großbritannien erhobenen Anspruch auf eine Monopolstellung in Westafrika zurückwies, die Interessen der nach ungehinderten Kolonialhandel strebenden deutschen Wirtschaft durchzusetzen. Der zeitgenössische Schriftsteller Joseph Conrad, der 1890 den „Kongo-Freistaat“ bereist hatte, bezeichnete die Aufteilung des afrikanischen Kontinents in Berlin als „die ekelhafteste Rangelei um Beute, die jemals die Geschichte des menschlichen Gewissens verunstaltete“.

In der Tat kamen durch die Regelungen zur Aufteilung Afrikas mehr als zehn Millionen Quadratmeilen afrikanischen Bodens und über 100 Millionen Afrikaner in etwa zwei Jahrzehnten mit Ausnahme Liberias und Äthiopiens unter europäische Herrschaft. Die Europäer stießen nicht, wie viele der Zeitgenossen und spätere Apologeten behaupteten, in ein Machtvakuum vor, in dem der Expansionsprozess ungehindert vonstattengehen konnte. Denn der afrikanische Widerstand gegen koloniale Eroberung und Okkupation erwies sich überall als ernsthaftes Hindernis, das nur durch den Einsatz europäischer Truppen, oft verstärkt durch einheimische Söldner, überwunden werden konnte. Kolonialkriege und Aufstände, aber auch passiver Widerstand, Verweigerung von Abgaben oder Dienstleistungen und das Entfliehen aus bestimmten Herrschaftsbereichen zeugen davon.

Im Ergebnis der Verhandlungen schließlich festgeschriebener Vorgehensweisen zur Aufteilung Afrikas unter den europäischen Kolonialmächten spielte auch immer die Forderung nach „freiem Zugang der christlichen Missionen“ eine Rolle. Mit der Generalakte wurde die Missionsfreiheit für ganz Afrika deklariert. Aber was war diese wert, wenn die afrikanische Bevölkerung zuvor oder zeitgleich mit dem Missionierungsprozess vertrieben oder durch die Niederschlagung antikolonialer Aktionen unterjocht wurde? Von den hehren Zielen, die der Öffentlichkeit mitgeteilt wurden und die auch in der Präambel der Generalakte ihren Niederschlag fanden, nämlich dass die europäischen Mächte meinten, einen Missionierungs- und Zivilisationsauftrag erfüllen zu müssen, um somit zur Verbesserung, wie es wörtlich hieß, der „sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften“ beizutragen, war in der Realität nicht viel zu bemerken.

Solche philanthropische Rhetorik war insbesondere für die europäische Öffentlichkeit gedacht. Ihr Zweck bestand darin, die Kritiker und Skeptiker einer Kolonialpolitik, die es wohl in fast allen teilnehmenden Ländern gab, wenigstens den Schein bürgerlicher Anständigkeit und das Verfolgen ideeller Ziele zu suggerieren. Die relevanten Festlegungen in der Generalakte über „besonderen Schutz“ für christliche Missionare und gegen den Sklavenhandel waren nicht zuletzt zur Gewinnung der Unterstützung breiter Bevölkerungskreise beider christlicher Konfessionen für die koloniale Aufteilung Afrikas gedacht. Diese Manipulation des Denkens kann als Anfang einer damals noch erst sich herauszubildenden beginnenden rassistisch motivierten Kolonialideologie gesehen werden.

Der Kolonialhistoriker Helmuth Stoecker gab folgende Einschätzung zur „Berliner Konferenz von 1884/85 über die koloniale Aufteilung Afrikas südlich der Sahara“ ab: Die Aufteilung „auf dem Papier“ durch Verträge zwischen diesen Mächten vollzog sich zum Teil während der Eroberung und die Errichtung kolonialer Herrschaft über die betroffenen Gebiete, doch zumeist erfolgte die dauerhafte Eroberung erst, nachdem ein Territorium im Ergebnis diplomatischer Kuhhändel einer bestimmten Macht zugesprochen worden war. Eine Vielzahl von Völkern also, in ihrer Mehrheit seit Jahrhunderten durch den Sklavenhandel auf das schwerste verletzt und in ihrer Entwicklung geschädigt, wurde ihrer Unabhängigkeit beraubt, sehr oft auch ihres Bodens und Viehs, ja sogar ihrer kulturellen Identität. Die Eroberer zwangen die afrikanischen Völker mit militärischer Gewalt, ihnen nicht nur die Naturschätze des Kontinents zu überlassen, sondern ihnen darüber hinaus für die Gewinnung und den Abtransport derselben Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Afrika wurde zu einer restlos abhängigen, unterjochten dépendance, einem kolonialen Rohstofflieferanten des europäischen, später auch des US-amerikanischen Kolonialismus bzw. später Neokolonialismus.
In der Tat legte die Konferenz in Berlin nicht nur Grundlagen für den „offiziellen Erwerb“ der deutschen Kolonialgebiete in Afrika, sondern auch in der Südsee und in China.

Der „Erwerb“ der deutschen Kolonien in Afrika

Togo

Die nur 50 km lange Küste von Togo, auf dessen Territorium mehrere afrikanische Staatswesen existierten und dessen Küstenorte wichtige Umschlagplätze für den transatlantischen Sklavenhandel waren, gelangte 1852 in den Blick von Deutschen. Hier errichtete die Norddeutsche Missionsgesellschaft in Bremen ihre Stationen. Nach französischen Kaufleuten folgten seit den 1870er Jahren Vertreter deutscher Handelshäuser, die vom Deutschen Reich Schutz und Unterstützung einforderten. Daraufhin schlossen deutsche Vertreter mit mehreren Häuptlingen Protektoratsverträge ab und am 5.7.1884 stellte das Kaiserreich Togo unter den „Schutz“. Dazu gehörte das Territorium der heutigen Republik Togo sowie der östliche Teil des heutigen Ghana. Ab 1886 wurde mit der gewaltsamen Eroberung des Hinterlandes, zumeist durch sogenannte Hinterlandexpeditionen, begonnen.

Kamerun

Nachdem Portugiesen das Territorium des heutigen Kamerun „erschlossen“ hatten, interessierten sich verschiedene europäische Handelshäuser dafür. Die erste deutsche Faktorei wurde 1868 eröffnet. Am 11.7.1884 wurde die Kolonialherrschaft durch den Abschluss von „Schutz“verträgen mit einigen Häuptlingen, in denen sie gegen Bezahlung und einige (später gebrochene) Zusicherungen Hoheitsrechte, Gesetzgebung und Verwaltung ihres Gebietes abtraten, festgelegt. Nach der förmlichen Weiterübertragung dieser Rechte auf das Deutsche Reich wurde die „deutsche Schutzherrschaft“ in Duala verkündet. In der Folgezeit wurden weitere Küstenorte okkupiert und eine Region nach der anderen unterworfen.

Deutsch-Südwestafrika (Namibia)

Schon im Jahre 1840 kamen die ersten Deutschen an die Küste des heutigen Staates Namibia. Es waren Missionare der Rheinischen Missionsgesellschaft, die hier ihre Stationen errichteten. Mitte 1883 erwarb der Bremer Kaufmann F. A. E. Lüderitz unter Anwendung betrügerischer Methoden die heutige Lüderitzbucht. Es gelang dem Bremer Kaufmann, dass am 24.4.1884 das Deutsche Reich den „Schutz“ dieser Besitzung übernahm. Von hier aus wurde unter Ausnutzung ethnischer Streitereien das deutsche Herrschaftsgebiet ausgeweitet und die dortigen kolonialen Verhältnisse stabilisiert, was 1904 zum Ausbruch des Hererokrieges führte.

Deutsch-Ostafrika (Tansania)

Im Verlauf des 18. Jahrhunderts waren an der ostafrikanischen Küste arabische feudale Staatswesen entstanden. Ein reger Handel, vielfach mit Sklaven, wurde zum Charakteristikum der Wirtschaft. Zwar hatten schon einige deutsche und britische Forscher die Küstenregion und Teile des Hinterlandes bereist, jedoch begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Periode des europäischen Eindringens in Tanganjika, wie das Territorium damals hieß. Insbesondere Deutschland und Großbritannien rangen erbittert um die Vorherrschaft über Ostafrika. 1885 erhielt die „Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft“ einen „Kaiserlichen Schutzbrief“ für die von dem Abenteurer Carl Peters erschlichenen Abkommen mit indigenen Herrschern. Trotz dauerhaftem Widerstand, der 1905/07 seinen Höhepunkt erreichte, konnten die Deutschen in den folgenden Jahren weite Gebiete im Innern der heutigen Vereinigten Republik Tansania erobern. Auch Regionen der heutigen selbstständigen Staaten Burundi und Ruanda wurden der Kolonie Deutsch-Ostafrika zugeschlagen.

Darüber hinaus waren auch Kiautschou mit der Hauptstadt Qingdao in China als Pachtgebiet sowie viele Inseln in der Südsee in den Fokus der Deutschen gelangt. Auch dort errichteten sie eine Kolonialherrschaft.

Methoden der Herrschaft

Die Formen der Ausübung der kolonialen Ausbeutung und Unterdrückung in den „eroberten“ afrikanischen Territorien waren mannigfaltig, auch in Ausmaß und Intensität der angewandten Gewaltformen. Am direktesten und am ausgeprägtesten wurde Gewalt von der deutschen Kolonialsoldateska in den afrikanischen Kolonien Deutsch-Südwest und Deutsch-Ostafrika angewandt.

Die heute viel diskutierten Ereignisse im und zum Herero- und Nama-Krieg im heutigen Namibia (1904–1908) waren nicht die einzigen Verbrechen und dadurch hervorgerufenen politischen Folgen (wenn hier auch besonders direkt), die das deutsche Kaiserreich erlebte und Auswirkungen bis in die Gegenwart besitzen.

Auch in den anderen Kolonialgebieten wurde jedweder antikoloniale Widerstand mit Gewalt und List gebrochen sowie mit Zwangsmaßnahmen regiert und ausgebeutet. In allen vier deutschen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent setzten die aus dem Reich in die Tropen gereisten neue Herren, die in ihrer Heimat oft genug gescheiterte Existenzen waren, ihre vermeintlichen Ansprüche mit allen ihren zu Gebote stehenden Methoden durch.

Wenn auch die Gewalt- und Zwangsmaßnahmen in den verschiedenen deutschen Kolonien mit unterschiedlichen Formen angewandt wurden, gehörten sie zum Repertoire der kaiserlichen Repressionsmaßnahmen. Konnten die Ziele der Kolonialherren mit anderen Mitteln durchgesetzt werden, verzichtete man auf blutige Willkür und sann sich andere Formen aus, um die einheimische Bevölkerung zu nötigen. So gab es im chinesischen Pachtgebiet viel weniger direkte Gewalttätigkeiten als in der Südsee und vor allem in Afrika. Falls sich dann jedoch, wenn die Herrschaft bedroht war, wie auf der Insel Ponape, die damals zu Deutsch-Neuguinea gehörte, Widerstand regte, wurde rigoros durchgegriffen. Dort kam es zwischen 1910 und 1911 zu einem Aufstand der Sokehs, die sich gegen Steuern und Zwangsarbeit wehrten. Die Deutschen reagierten mit brutaler Gewalt. Das ist im aktuellen Geschichtsbewusstsein kaum bekannt.

Selbst in dem noch heute oftmals als „Musterkolonie“ gepriesenen Togo regierten die Deutschen mit Gewaltmaßnahmen, wenn es hier auch keine blutig niedergeschlagenen Aufstände gab, mit Drohungen, Zwangsarbeit, Steuereintreibungen und ähnlichen Maßnahmen. Die ausgebliebenen kollektiven blutigen Zwangsmittel ließen die Mär von der gewaltlosen Herrschaft in der „Musterkolonie“ reifen, sie sogar als human erscheinen. Wie „human“ die deutsche Kolonialpolitik in Togo gewesen ist, zeigte etwa die Tatsache, dass die Deutschen mehr Gefängnisse als Schulen errichteten.

Ziel aller Gewaltformen war letztendlich der Raub des Landes der Einheimischen. Mit der Ausbeutung der dort lebenden Menschen sollten die für die koloniale Verwaltung notwendigen Finanzmittel durch Steuern und Zwangsarbeit erbracht werden. Nach dem Motto „Teile und herrsche“ wurden zudem die Streitigkeiten unter den indigenen Herrschern ausgenutzt und Rivalitäten zwischen ethnischen Gruppierungen geschürt.
Außer dem erwähnten Herero- und Nama-Krieg in Deutsch-Südwestafrika, der in einem Völkermord endete, und der heutigentags eine in der Öffentlichkeit geführte Debatte darüber ausgelöst hat, gab es ebenso in anderen deutschen Kolonialgebieten antikolonialen Widerstand, der brutal niedergeschlagen wurde. Einige, die Rückschlüsse auf das deutsch-afrikanische Herrschaftsverhältnis zulassen, seien im Folgenden genannt:

Der Maji-Maji-Krieg in Ostafrika

Im Mittelpunkt des Interesses in der damaligen deutschen Öffentlichkeit und später in der wissenschaftlichen Aufarbeitung stand der Maji-Maji-Aufstand. Arbeitszwang und Willkür waren die Hauptursachen für dessen Ausbruch. Eine relativ breite Allianz von Angehörigen afrikanischer Ethnien erhob sich von 1905 bis 1907 im Süden der Kolonie Deutsch-Ostafrika gegen die koloniale Ausbeutung und Herrschaft des Deutschen Reichs. Der durchaus als Krieg zu bezeichnende bewaffnete Widerstand der Afrikaner, einer der größten Kolonialkonflikte in Afrika, endete mit einer verheerenden Niederlage. Auch wenn es Erschießungen und andere Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung gab, starb die Mehrheit der Getöteten nicht durch Gewehrkugeln, sondern durch Verhungern und weitere Kriegsfolgen, weil die deutsche „Schutztruppe“ Felder und Dörfer niedergebrannt hatte. Ganze Landstriche wurden so entvölkert.

Kamerun

Noch weniger bekannt ist, wie die Deutschen in Kamerun ihre kolonialen Vorstellungen durchsetzten und welchen Widerstand sie dadurch provozierten. Ein Grund für den geringen Bekanntheitsgrad der Ereignisse in Kamerun ist der Tatsache geschuldet, dass zuweilen bis in die jüngste Zeit die Errichtung und Durchsetzung der Kolonialherrschaft beschönigt wird, gar von einer „humanen Kolonialpolitik“ geschrieben wird, weil es etwa seit 1907 eine Korrektur der Kolonialpolitik gegeben hatte. Nicht mehr blinde Gewalt sollte im Mittelpunkt der Methoden zur Aufrechterhaltung der Herrschaft stehen, sondern die effektive Ausbeutung von Land und Leuten. Der Nestor der deutschen Kolonialhistoriographie, Helmuth Stoecker, erklärte dies mit der Tatsache, dass nunmehr die Aufteilung der Erde unter den imperialistischen Großmächten abgeschlossen gewesen sei und „eine intensive Ausbeutung des Kolonialbesitzes“ begann.

Mit geradezu räuberischen Praktiken wurde die Kameruner Bevölkerung auf Plantagen, beim Straßen- und Eisenbahnbau ausgebeutet. Außerökonomischer Zwang spielte eine bedeutende Rolle. Die zukünftigen Arbeitskräfte wurden durch Alkohol gefügig gemacht, man nutzte deren Unwissenheit aus, Häuptlinge wurden bestochen. Jedoch wurde auch dann, wenn es für notwendig erachtet wurde, rücksichtslose Gewalt angewendet. Die Sterblichkeit unter den afrikanischen Arbeitskräften war katastrophal.

In einer der ersten kolonialkritischen wissenschaftlichen Untersuchungen heißt es hierzu: „Hungerlöhne, übermäßig lange Arbeitstage, ungenügende Ernährung, mangelhafte Unterkünfte, Frauen- und Kinderarbeit, ein zerrüttetes Familienleben, ein früher Tod, Prügel- und Kettenstrafen – das war das Los der Arbeiter in Kamerun.“ Solche Formen der Ausbeutung und Unterdrückung verbunden mit Methoden der Vertreibung großer Teile der afrikanischen Bevölkerung vom Grund und Boden führten zu passivem und auch aktivem afrikanischem Widerstand.

Togo – die „Musterkolonie“

Die flächenmäßig kleinste afrikanische Kolonie des deutschen Kaiserreichs stellte Togo dar, die als „Musterkolonie“ bezeichnet wurde. Und dies mit dem Argument, dass es die einzige deutsche Kolonie sei, die man so stark ausbeuten konnte, dass sie kein Verlustgeschäft für die sich dort niedergelassenen Händler, Farmer, Beamte und sonstigen Deutschen darstellte und somit nicht den Staatshaushalt belaste. Die finanziellen „Verluste“ in den anderen deutschen Kolonien trugen die Steuerzahler im Reich daheim.

Trotz Gewaltanwendung bei der militärischen Unterwerfung und bei der Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft kam es nicht zu offenen bewaffneten Widerstandsaktionen. Der Togo-Experte Peter Sebald hierzu: „Es ist festzustellen, dass das Kolonialregime auf allen Gebieten scharfe Konflikte mit der Bevölkerung verursachte. Wenn es nicht… zu größeren Aufständen kam, dann besonders, weil die fortgeschrittenere gesellschaftliche Entwicklung der afrikanischen Bevölkerung… den deutschen Kolonialismus zur Anwendung differenzierterer Methoden veranlasste.“

Die deutsche Kolonialverwaltung arbeitete deshalb eher mittels Repressionsmaßnahmen, die von der Justiz abgesichert wurden. Die Zahl der Strafurteile stieg von 1.072 im Jahre 1901/02 auf 6.009 im Jahre 1911/12, die Anzahl der offiziell verhängten Prügelstrafen von 162 auf 733 im gleichen Zeitraum. Nicht zu unterschätzen ist der andauernde passive Widerstand, indem einzelne Personen, zuweilen auch ganze Dörfer in die Nachbarkolonien abwanderten. Auch dies ist eine Folge der angedrohten Gewalt unter den Bedingungen einer hochentwickelten europäischen Kolonialherrschaft.

Deutscher Kolonialismus

Gewalt, ob subtil oder direkt spontan, wendete die deutsche Kolonialadministration in allen von ihr unterworfenen Gebieten an, denn nach dem wie auch immer vonstattengegangenen Landerwerb ging es darum, die dort lebende Urbevölkerung zum Arbeiten zu bewegen. Diese lebte bislang von der Subsistenz- und Naturalwirtschaft und sollte durch Gewalt und Gewaltandrohung zur Produktion von Mehrwert angehalten werden, die den Handelsunternehmen, den Farmern, Bauherren, Reedern und anderen am Kolonialhandel interessierten Kräften in Deutschland zugutekommen sollte. Die Deutschen führten deshalb Kopf- und Hüttensteuern ein. Wer diese nicht entrichten konnte oder wollte, wurde zur Zwangsarbeit verurteilt. Große Teile der indigenen Bevölkerungen gerieten so in Unfreiheit. Passivem (Flucht) wie aktivem Widerstand (Aufstände/Kolonialkriege) wurde mit den verschiedensten Formen struktureller Gewalt begegnet. Diese eigentlich schon lange bekannte Tatsache wurde und wird durch wissenschaftliche Forschungen immer wieder bestätigt.
Die deutsche Kolonialherrschaft endete mit der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von Versailles; in einigen deutschen Kolonien war dies schon kurz nach Kriegsausbruch der Fall.

Ausgewählte Übersichtsdarstellungen zur Geschichte des deutschen Kolonialismus

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  • Diallo, Oumar und Zeller, Joachim: Black Berlin. Die deutsche Metropole und ihre afrikanische Diaspora in Geschichte und Gegenwart, Metropol, Berlin 2013 (2. überarb. Aufl. 2014) DNB
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  • Toffa, Ohiniko M.: Christliche Moral und koloniale Herrschaft in Togo. Die Missionskonzeption Franz Michael Zahns (1862-1900), 2023 DNB
  • Wagner, Norbert Berthold: Die deutschen Schutzgebiete. Erwerb, Organisation und Verlust aus juristischer Sicht, Baden-Baden 2002. DNB
  • Zeller, Joachim: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewußtsein. Eine Untersuchung der kolonialdeutschen Erinnerungskultur. Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 2000 (Zugleich: Berlin, Technische Universität, Dissertation, 1999) DNB
  • Zeller, Joachim: Bilderschule der Herrenmenschen. Koloniale Reklamesammelbilder, Berlin 2008 (Lizenzausgabe: Koloniale Bilderwelten. Zwischen Klischee und Faszination. Kolonialgeschichte auf frühen Reklamesammelbildern. Weltbild, Augsburg 2010 DNB
  • Zeller, Joachim: Weiße Blicke – Schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur. Bilder aus der Sammlung Peter Weiss. Sutton, Erfurt 2010 DNB
  • Zeller, Joachim: Wilde Moderne. Der Bildhauer Fritz Behn (1878–1970), Nicolai, Berlin 2016 DNB
  • Zeller, Joachim und Zimmerer, Jürgen: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Ch. Links, Berlin 2003 (2. Aufl. 2004; 3. Aufl. 2016; Ausgabe in Englisch: Genocide in German South-West Africa. The Colonial War of 1904–1908 in Namibia and its Aftermath, Translated and Introduced by Edward J. Neather, Merlin Press, London 2008 DNB
  • Eyoum, Jean-Pierre Félix / Michels, Stefanie / Zeller, Joachim (Hrsg.): Duala und Deutschland – verflochtene Geschichte. Die Familie Manga Bell und koloniale Beutekunst: Der Tangue der Bele Bele / Douala et l´Allemagne : une histoire croisée. La famille Manga Bell et l’œuvre d´art colonial pillé : Le « Tangué » des Bele Bele, DEPO-Schriftenreihe Nr. 2, Schmidt von Schwind Verlag, Köln 2011, ISBN 978-3-932050-30-5. Worldcat
  • Zimmerer, Jürgen: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a.M. 2013 DNB
  • Zöllner, Christian W.: Deutsch-Herero-Krieg 1904. Eine Betrachtung unter dem Aspekt Völkermord, Kiel 2017 DNB